Léo Delibes (1836-1891):

Sylvia ou La Nymphe de Diane

deutsch Silvia oder Dianas Nymphe / englisch Sylvia

Allgemeine Angaben zum Ballett

Entstehungszeit: 1876
Uraufführung: 14. Juni 1876 in Paris (Palais Garnier)
Choreographie: Louis Mérande
Bühnenbild: Jules Chéret, Alfred Rubé, Philippe M. Chaperon
Kostüme: Eugéne Lacoste
Formation: Ballett der Opéra Paris
Ausführende: Rita Sangalli, Louis Mérante, Marco Magri. Marie Slanlaville, Louise Marquet
Besetzung: Orchester
Spieldauer: ca. 100 Minuten
Bemerkung: Die „Sylvia“ steht ein wenig im Schatten der „Coppélia“ – völlig zu Unrecht, denn Léo Delibes hat eine hinreißende Partitur zu einem spannenden Libretto geschrieben. Es gibt nicht allzu viel abendfüllende Ballette, so dass ein Weiterleben der „Sylvia“ als gesichert angesehen werden kann.

An der Pariser Oper brachte John Neumeier eine neue Fassung heraus und unterlegte der Musik in den Abläufen ein völlig neues Libretto. Sylvia wird nicht als von Orion gefangen gesetzte Nymphe, sondern als selbstbewusste Frau unserer Tage zeigt. Ein Happy-End für den kleinen Schäfer ist nicht vorgesehen. Mit einem reichen Fremden geht Sylvia unerwartet davon und lässt den Verblüfften allein zurück.

Zum Ballett

Art: Ballett in drei Akten
Libretto: Jules Barbier und Baron de Reinach nach Torquato Tasso
Ort: Mittelmeerraum
Zeit: in mythologischer Zeit

Personen der Handlung

Sylvia: eine stolze Nymphe
Aminta: ein verliebter Schäfer
Orion: der wilde Jäger
Eros: Liebesgott
Diana: Jagdgöttin

Handlung

1. Akt:

PRÉLUDE

Nymphen und andere pannormale Wesen sind bekanntlich nachtaktiv. Damit sie ihr Umfeld erkennen können, lieben sie den Mondschein. Aminta, ein Schäfer, gerade der Pubertät entwachsen, ist immerhin so clever, zur gleichen Stunde an den gleichen Ort zurückzukehren, an dem er die schöne Jägerin schon einmal gesehen hat. Er hat sich heftig in sie verliebt - ohne zu bedenken, dass Wesen von unterschiedlicher biologischer Beschaffenheit es schwer haben, miteinander zurechtzukommen. Sylvia, das Objekt seiner heimlichen Sehnsucht, ist nämlich eine Nymphe, genauer gesagt eine Waldnymphe im Dienste der Göttin Diana, die außerdem noch Keuschheit gelobt hat.

Im heiligen Hain treibt sich allerhand Gesindel herum, welches zwischen der menschlichen Ebene und der Geisterwelt anzusiedeln ist. Alle haben unersättlichen Appetit auf Liebe, so dass man das Wäldchen schon gar nicht mehr als heilig bezeichnet kann, wenn Cupido dort nicht sein Tempelchen hätte. Herumalbernde Faune und Dryaden ziehen sich zurück, als Aminta erscheint. Man möchte nicht, dass Zügellosigkeit aller Art vom Mondlicht beschienen, von Menschen zur Kenntnis genommen und in Büchern zum Nachlesen für spätere Generationen festhalten oder als Ballett auf die Bühne gebracht wird.

Aminta will die liebliche Jägerin unbedingt näher kennen lernen und erfleht zu Füßen der Statue Cupidos Hilfe. Sogleich wird er erhört, denn aus der Nähe ertönt der Ruf von Jagdhörnen, und eine Schar wilder Mädchen stürmt auf die Lichtung. Der Sterbliche verliert vor so viel Unbändigkeit die Courage und versteckt sich hinter der Statue. Seine Liebste ist dabei – von allen ist sie die Schönste – aber die Damen scheinen mit der Liebe nicht allzu viel im Sinn zu haben, denn sie preisen das Jagdglück und lassen die Statue Cupidos völlig unbeachtet.

Ausgelassen tanzen sie miteinander und legen sich dann ermüdet ins Moos. Die liebliche Sylvia hebt das Jagdkleid und nimmt in der Quelle ein Fußbad. Insgesamt sind es vier Augen, welche die traumhafte Szenerie im Mondschein beobachten. Der Wüstling Orion ist nämlich in der Nähe und hat vom hohen Felsen die Jagdgesellschaft erspäht.

Eine der Nymphen stolpert über des Schafhirten Umhang, den dieser achtlos herumliegen und vergessen hat. Die keuschen Kreaturen sind entsetzt und halten Umschau nach dem unwillkommenen Eindringling. Hinter der Statue wird er hervorgezogen und vor Sylvia gebracht, welche unheilverkündend die Stirne runzelt. Aminta hat sein Schicksal akzeptiert und möchte Syvia nur noch erklären, dass er sie mehr liebt als sein Leben. Solche Sprüche machen Eindruck auf eine Frau, und mit dem Bogen, der auf den Reumütigen gerichtet war, macht Sylvia abrupt eine Kehrtwendung und zielt auf die Statue des Liebesgottes. Diesen Frevel kann Aminta nicht zulassen, wirft sich zwischen den Todesschützen und die Skulptur und sackt, vom tödlichen Pfeil ins Herz getroffen, zusammen.

Etwas Unerwartetes geschieht! Die Statue wird plötzlich lebendig, greift nach dem eigenen Bogen, und der goldene Pfeil fällt zu Füßen Sylvias nieder. Die Kaltherzige ergreift den Liebespfeil, steckt ihn in den Köcher zu den anderen und verlässt mit ihren Mädchen den Schauplatz des schrecklichen Geschehens.

Der Tag bricht an, und wie gewohnt nähern sich in einer Prozession Traubenpflücker und Schafhirten, um dem Tempel und dem geflügelten Gott ihre Ehrerbietung zu erweisen. Orion, der schwarze Jäger, die Geißel von Wald und Flur, nähert sich ebenfalls, um den Schauplatz des nächtlichen Dramas zu inspizieren. Befriedigt stellt er fest, dass seinem Rivalen das Rendezvous mit der Nymphe nicht gut bekommen ist. Diese selbst erinnert sich ebenfalls des hübschen Schäfers, und, der Zauberkraft von Cupidos Liebespfeil ausgesetzt, eilt sie heran und beugt sich zu ihm nieder, um zu prüfen, ob nicht doch noch ein Lebensfunken im Körper des Bedauernswerten zurückgeblieben ist. Den wilden Jäger hatte die Heranhastende nicht bemerkt. Gerade will sie mit der Mund-zu-Mund-Beatmung beginnen, als Orion über sie herfällt und sie trotz heftiger Gegenwehr wie ein Bündel Getreide davonträgt.

Die Szene ist nicht unbeobachtet geblieben. Erntehelfer und Schäfer eilen herbei - mit ihnen ein unbekannter Alter -, um zu sehen, ob Rettung noch möglich ist. Der unbekannte Arzt ist in seiner Kunst wirklich bewandert. Er legt dem Kleinen eine Rose auf den Mund, und schon beginnt er wieder zu atmen und fordert Auskunft, was passiert sei. Der unbekannte Magier war natürlich Cupido selbst – der Ballettbesucher hat es richtig erfasst - der die mutige Tat seines Schützlings positiv registrierte und ihn nun nicht im Stich lässt. Unbemerkt hat er seinen Umhang abgeworfen und den gewohnten Platz auf dem Sockel als Statue wieder eingenommen.

Am Klang des Waldhorns hört man, welche Richtung Orion mit seiner Beute eingenommen hat. Aminta wird die Verfolgung aufnehmen, um die liebliche Sylvia aus den Fängen des wilden Jägers zu befreien. Seine Körperkräfte stehen allerdings im Schatten seines Heldenmutes, und der Ballettbesucher hat berechtigte Zweifel, ob sie ausreichen werden, den Jäger zu überwältigen.

INTERMEZZO

2. Akt:

Sylvia liegt bewusstlos in Orions Höhle, während der schwarze Jägersmann leidenschaftlich zu ihr hinüberstarrt. An Flucht ist nicht zu denken, und so macht die aus der Ohnmacht Erwachte gute Miene zum bösen Spiel. Die leckere Mahlzeit, die Orion ihr vorsetzt, verschmäht sie nicht, und Orion malt sich aus, dass anschließend der Tisch auch für ihn gedeckt sein wird. Um seinem Gast den Aufenthalt in seinem geräumigren Unterschlupf angenehm zu machen, beordert er zwei kleine äthiopische Sklaven, nach dem Mahl für die liebliche Sylvia zu tanzen.

Orion weiß natürlich, dass eine Nymphe der Diana Zeit braucht, um ihrer Keuschheit adieu zu sagen. Deshalb drängt er sie auch nicht. Sylvia wird sogar anspruchsvoll und möchte nicht jeden Tag Milch oder Quellwasser trinken. Ihr steht der Sinn nach Rotwein. Den beiden äthiopischen Sklaven zeigt sie, wie man die zermatschten Trauben zu Saft macht und diesen in eine Amphore füllt. Durch inständiges Bitten wird mit Hilfe der Götter der Gärungsprozess beschleunigt.

Zu viert feiert man ein kleines Gelage, und Sylvia legt mit den beiden Sklaven einen bacchanitischen Tanz hin. Orions Begehren wird angestachelt, sinkt aber im Vollrausch handlungsunfähig ermüdet aufs Bärenfell.

Nun versucht Sylvia, den Felsen, der den Eingang verschließt, zur Seite zurücken, was ihr aus eigener Kraft nicht gelingt. Die Göttin Diana hat den Raub ihrer Nymphe offenbar nicht mitbekommen, denn die Olympierin tut nichts, um ihrer Jagdgefährtin zu helfen. Cupido zeigt sich jedoch auf ihre Bitten erneut von seiner Schokoladenseite und hebt die Naturgesetze vorübergehend auf. Die störenden Wände des Gefängnisses verschwinden auf magische Weise, und die Waldnymphe hört ihre Gefährtinnen, die mit Blechbläsermusik den Tagesablauf gestalten. Sylvia erfährt, dass Aminta lebt und sich auf der Suche nach ihr befindet.

3. Akt:

Am Meeresstand gelegen und von einer gewaltigen Eiche überschattet, gilt der Tempel der Göttin Diana als architektonisches Kleinod. Es wird Erntefest gefeiert, und um den Göttern nahe zu sein, haben sich die
Menschen mythologisch maskiert. Sogar Bacchus’ kleiner Bollerwagen, mit übermütigem Volk beladen, rattert an der Uferpromenade auf und ab.

Es nähert sich ein Boot, von einem jungen Piraten gesteuert, der offenbar Mädchen eingefangen hat. Pantomimisch demonstriert ein Sklave die Zerrissenheit eines jungen Menschen, der zwischen der Erwartung neuer Erlebnisse und der Erinnerung an die alten zu wählen hat. Doch Aminta, dem der Tanz galt, ist unbeeindruckt und auch die angereisten Mädchen können seinen Trübsinn nicht verscheuchen. Doch von einer Holden kann der unglücklich verliebte Schäfer den Blick nicht abwenden und der Anführer – der Ballettbesucher erkennt in ihm Cupido – spannt den armen Hirten nicht länger auf die Folter. Der Liebesgott zieht den Schleier weg und alle erkennen Sylvia. Amintas Freude ist unbeschreiblich, zumal die Nymphe sich nicht mehr spröde verhält. Die Erleichterung über die Wiedergefundene wird von den Anwesenden durch einen rasanten Galopp zum Ausdruck gebracht.

Orion hatte schon immer ein wachsames Auge. Um seinen Rivalen zu liquidieren, hat er eine Axt mitgebracht. Sylvia beeilt sich, den schützenden Tempel der Göttin aufzusuchen. Die Tempelpforten knallen unwiderruflich zu! Der schurkische Orion sieht das Objekt seiner Begierde entschwinden, lässt von seinem Rivalen ab und nimmt die Verfolgung der Nymphe auf. Wütend schlägt er dreimal mit dem Axt gegen die Pforte. Nun wird es Diana endlich zu bunt, und die Göttin greift massiv ein. Ein gezielter Schuss zwischen die Nieren verhindert die geplante Tempelschändung.

Die Göttin ist erzürnt – eigentlich ereignet sich das regelmäßig – denn immer wieder gilt es, Gefährtinnen zu bestrafen, die sich in Liebe einem Mann zuzuwenden, obwohl sie es ausdrücklich verboten hat. Wie soll die Herrin ihr Gefolge in Zucht und Vollständigkeit beisammenhalten, wenn den Mädchen der Sinn nach Zweisamkeit mit einem Menschenwesen steht. Aus dieser Sicht ist ihr Unmut berechtigt – der Ballettbesucher wird sich hier auf Dianas Seite schlagen. Sylvia nützt es nichts, wenn sie ihre Verstrickung auf Cupidos Liebespfeil abschiebt oder Aminta die Strafe der Göttin stellvertretend für die geliebte Nymphe auf sich nehmen will. Donner und Wetterleuchten am Himmel unterstreichen den Unmut Dianas.

Wiederum ist es Cupido, der es geschickt versteht, Dianas Emotionen zu neutralisieren. In einer Wolke beschwört er die Erscheinung des schlafenden Endymion, dem Diana einst in Liebesglut zugetan war. Cupido wirft seinen Piratenumhang ab und gibt sich als Olympier zu erkennen. Diana befürchtet nun, dass ihre Geheimnisse von ihm vor den Menschen ausgewalzt werden könnten, was ihr nicht ins Konzept passt. Ernsthaft miteinander anlegen wollen sich die beiden Schützen auch nicht und so besinnt die Göttin sich auf ihr gutes Herz. In gegenseitigem Einverständnis entlässt sie Sylvia aus ihren Diensten, damit die Törichte mit Aminta glücklich werden kann.

Der glückliche Ausgang des Geschehens veranlasst die Anwesenden, ausgelassen zu tanzen. Niemand macht sich Gedanken, ob die beiden Liebenden langfristig zusammenbleiben werden und Sylvia das lustige Leben mit den Gefährtinnen dem Hüten von Schafen wieder den Vorzug geben wird. Aber wird Diana sich erweichen lassen und die Abtrünnige wieder eingliedern?


Letzte Änderung am 9.2.2008
Beitrag von Engelbert Hellen