Hans Werner Henze (1926-2012):

Undine

Allgemeine Angaben zum Ballett

Entstehungszeit: 1957
Uraufführung: 24. Oktober 1957 in London
Spieldauer: ca. 100 Minuten

Zum Ballett

Art: Ballett in drei Akten
Libretto: nach Friederich de la Motte Fouqué

Personen der Handlung

Undine: Nymphe, rastlos
Tirrenio: König der Gewässer, besorgt
Palemon: Ritter, wankelmütig
Beatrice: Verlobte, verzweifelt
Weitere: Ein frommer Eremit, Nymphen, Tritonen, Jäger, Fischer, Seeleute, Diener, viel Volk

Handlung

1. Akt:

Der Ritter Palemon beabsichtigt, die schöne Beatrice zu heiraten und schenkt ihr ein goldenes Amulett. Die Dame zeigt jedoch Allüren und nimmt das Geschenk nicht an. Hierüber gerät Palemon ins Meditieren. Die Nymphe Undine erscheint urplötzlich im Schlosshof und vollführt einen Tanz mit ihrem Schatten und zeigt sich von diesem fasziniert.

Die undankbare Beatrice ist vergessen, und Palemon wendet der Nymphe seine Aufmerksamkeit zu. Diese flieht in den Wald, in der Erwatung, dass der Ritter ihr folgen wird. Beatrice ist über das Verhalten ihres Bräutigams erbost und nimmt mit den Hochzeitsgästen die Verfolgung auf.

Das Bühnenbild hat sich verändert. Wir sind jetzt nicht mehr im Schlosshof, sondern im Wald. Undine und Palemon haben sich das Gehölz als Tanzfläche erkoren. Tirrenio, der Vater Undines, ist besorgt. Eigentlich im westlichen Mittelmeer zu Hause, ist der Meereskönig seiner unsteten Tochter gefolgt. Eine intime Beziehung zu einem Sterblichen - das kann nicht gut gehen! Da Tirrenio die Verfügungsgewalt über das Wasser hat, zaubert er einen Wasserfall als trennendes Hindernis, damit die beiden ihren Pas de deux nicht zu Ende bringen können. Von Tritonen und weiteren Nymphen, die seine Anhängerschaft bilden, wird er tatkräftig unterstützt.

Palemon gelingt es jedoch, das geliebte Wesen an sich zu reißen und mit seinen Armen fest zu umschlingen. Tirrenio und seine Wassergeister sind unschlüssig, weil sie mutmaßen, dass nicht Leichtsinn, sondern wahre Liebesglut die beiden erfasst hat. Wenn das so ist, sollte sogleich geheiratet werden. Zum Glück taucht in diesem Augenblick ein Eremit auf, der in der Nähe seine Behausung hat, und nimmt die Trauung gemäß seiner Vorstellung vor. Kleine Faune sind die Ministranten.

Beatrice, die Jäger und ihre Hochzeitsgäste haben die Flüchtenden eingeholt. Tirrenio hat seiner Tochter und ihrem soeben angetrauten Gemahl einen Fluchtweg bereitgehalten, um sie ihren Verfolgern zu entziehen. Nun bleibt der verlassenen Beatrice nichts anderes übrig, als zu Füßen des Eremiten weinend zusammenzubrechen. Dessen Herz ist gerührt und er zeigt ihr die Richtung, in welcher der Treulose mit seiner soeben erst Angetrauten sich davon gemacht hat. Nereiden und Tritonen verhindern die Verfolgung durch die aufgebrachte Anhängerschaft Beatrices.

2. Akt:

Auf ihrer Flucht hat Palemon mit seinem Wassergeist einen kleinen Mittelmeerhafen erreicht. Die Seeleute machen das Boot startklar, und die beiden gehen an Bord. Überraschend taucht Beatrice auf und drängt die Liebenden, sie mit an Bord zu nehmen. Zum Überlegen bleibt keine Zeit, denn die Matrosen haben die Ankertaue bereits gelöst. Beatrice kommt sich ein bisschen überflüssig vor. Bald ist das Schiff auf hoher See. Das Wasser ist Undines eigentliches Element. Es macht ihr Spaß, ihre Macht zu gebrauchen. Ganz nach ihren Wünschen gibt es Wind, damit die Wellen sich kräuseln, oder Sturm, der den Gischt hoch spritzten lässt.

Palemon möchte Undine das Amulett schenken, welches einst Beatrice bekommen sollte. Die Eifersüchtige entreißt ihm die Halskette und lässt es über der Reling auf- und abschaukeln. Tirrenio kommt in einer Woge heran, greift sich das Schmuckstück und verschwindet damit im Wasser. Beatrice ist völlig verstört, und unter den Seeleuten, die den Vorfall beobachtet haben, bricht Panik aus.

Undine fühlt sich unwohl, weil die Wassergeister dauernd nach ihr rufen. Beatrice muss besänftigt werden, und Undine hält die Hand ins Wasser und holt ein prächtiges Korallenkollier hervor, welches sie Beatrice als Ersatz für den Verlust des Amuletts anbietet. Die ewig Gekränkte ist nicht versöhnungsbereit und wirft Undine den Schmuck vor die Füße. Die Wassergeister sehen, dass die Verbindung der Liebenden nicht glücklich ist, und Tirrenio entfacht einen Sturm, um seine Tochter ins nasse Element zurückzuholen. Palemon will aus Verzweiflung ins Wasser springen, wird aber von den Matrosen daran gehindert.

Der Sturm wird zum Orkan, und das Schiff geht in die Brüche. Stockdunkel ist es geworden, doch der gesamten Mannschaft gelingt es, sich und die Passagiere auf einen Felsen zu retten.

Es war keine gute Idee, Beatrice mit ins Boot zu nehmen. Was aus der Hochzeitsgesellschaft geworden ist, erfährt der Ballettbesucher nicht.

3. Akt:

Jetzt findet die Vermählung zwischen dem Ritter Palemon und der Edeldame doch statt. Die Heirat mit Undine war nur Spaß, und die Abwicklung der Zeremonie mit einem Eremiten litt an erheblichen Formfehlern.

Palemon sitzt verträumt in der Halle und ist nicht so recht bei der Sache. Denkt er etwa an Undine? Beatrice muss den gedanklich Abwesenden rütteln. Die Hochzeitsglocken läuten bereits, und die Diener zünden die Lichter an.

Die Feierlichkeiten beginnen. Zuerst tanzen die Männer und dann Beatrice. Ein Gast, gekleidet wie der Abgesandte eines Fürstenhofes, lenkt die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist Tirennio, der sich artig vor den Gästen verbeugt. Doch plötzlich wird es lebhaft, denn unter den vielen napolitanischen Masken verbergen sich Nymphen und Tritonen. Jetzt geht die Tanzerei erst richtig los. Stimmung ist angesagt, dass die Vorhänge flattern. Den Gästen wird es ob der merkwürdigen Gesellschaft unheimlich, und sie verschwinden einer nach dem anderen. Die Halle füllt sich mit Nymphen und Tritonen; die Fackeln erlöschen, bis es schließlich dunkel wird.

Doch Beatrice gibt so leicht nicht auf. Sie hält einen Armleuchter in der Hand und sucht ihren Ritter. Dieser hat jedoch keinen Blick für sie und wartet auf die Erscheinung von Undine. Er schubst die Vermählte sogar weg, weil sie im Wege ist. Die Verschmähte begreift endlich, dass es mit dem Wankelmütigen keinen Zweck hat.

Undine kommt aus der Tiefe des Schlossparks und weint, dass ihr die Tränen wie Sturzbäche über die Backen laufen. Sie tanzt nun den Tanz der Besorgnis. Der Ritter versucht, nach Undine zu greifen. Diese lässt sich nicht lange bitten und küsst ihn, bis er tot zusammenbricht. Il baco del morte! - Kleine Ursache, große Wirkung! Aber ein bisschen labil war Palemon immer schon.

Meereswogen setzen die Halle unter Wasser, so dass an ein Weitertanzen nicht mehr zu denken ist. Undine taucht ab und die Besucher eilen zur Garderobe.

Beschreibung

Im Ballettschaffen des zwanzigsten Jahrhunderts stellt „Undine“, welche Hans Werner Henze bereits mit 30 Jahren komponierte, einen Superlativ dar. Allein schon die Zeitdauer von fast zwei Stunden ist atemberaubend. Eine unerschöpfliche Fülle von kompositorischen Einfällen reiht sich aneinander, so dass die Spannung für den Zuhörer ständig erhalten bleibt. Die Tonsprache Henzes ist glasklar und diszipliniert, das Intime steht unmittelbar neben dem Hochdramatischen. Ausgehend von der Romantik über den spät einsetzenden Klassizismus Strawinskis findet Henze schon in frühen Jahren seine eigene Form. Er setzt sich in Opposition zu den Strömungen der Avantgarde, die zum Teil in den fünfziger Jahren von Darmstadt ausgingen, und hat es nicht nötig, sich Experimenten auszusetzen. Henzes Musik fasziniert unmittelbar auch den Einsteiger in die Welt der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts.

Die Logik des Librettos lässt natürlich zu wünschen übrig, ist aber bei Ballettmusik auch nicht so wichtig. Der Kritiker fragt sich, weshalb Undine, nymphoman veranlagt, versessen auf eine feste Bindung ist. Welches sind die Qualitäten eines Ritters, der schon bei einem feurigen Kuss tödlich zusammenbricht? Zum „Tiefschürfen“ bleibt trotzdem ausreichend Spielraum.

Physisch und geistig wird den Tänzern Erhebliches abverlangt. Die Undine blieb die Lieblingspartie von Margot Fonteyn.


Letzte Änderung am 17.3.2007
Beitrag von Engelbert Hellen