Cydalise und der Faun / Cydalise and the Goat-Foot
Entstehungszeit: | 1914-15 |
Uraufführung: | 15. Januar 1923, Opéra Paris |
Spieldauer: | ca. 75 Minuten |
Art: | Ballett in zwei AKten und drei Tableaus |
Libretto: | Gaston Arman de Caillavet und Robert de Flers |
Ort: | Frankreich |
Zeit: | 17. Jahrhundert |
Cydalise: | Schauspielerin und Ballerina am Hof von Versailles |
Styrax: | junger Faun, musisch begabt und in Cydalise verliebt |
Die Grottennymphe: | Trinkwasserspenderin |
Der Alte Faun: | Musiklehrer und Erzieher |
Mnesilla: | kleine Nymphe, Tanzpartnerin von Styrax |
Weitere: | Dryaden, Baumgeister, Nymphen und Faune, Ballettmeister, Tänzer, Darsteller und Handwerker, Verehrer und Bedienungspersonal Cydalises, der kleine Blackboy |
Auftritte:
1. Introduction
2. Danse de Dryades
3. Apparition de la Source
4. L’École des Aegipans
5. La Leçon de flûte de Pan
6. L’École des Nymphes
7. La Leçon de danse
8. Scène
9. Styrax
10. Entrée des danseurs
11. Entrée de Styrax
12. Entrée de Cydalise
BALLETT DE LA SULTANE DES INDES
13. Entrée
14. Pantomime
15. Pas des Apothicaires
16. Danses des Esclaves
17. Variation de Cydalise
18. Final du Ballet
19. Danse de Styrax
20. Entrée de Cydalise
21. Entrée des Suivantes
22. Pas des billets doux
23. Entrée de Styrax et dance
24. Final
Zur Gestaltung des Schlossparkes von Versailles haben die Landschaftsgärtner sich einiges einfallen lassen. Es gibt dort nicht nur breite Alleen und verschnörkelte Blumenrabatten, sondern auch lauschige Winkel. Letztere werden nachts gern von Wesen frequentiert, von denen der Sterbliche annimmt, dass es sie überhaupt nicht mehr gibt.
Ein besonders schönes Plätzchen ist ein ornamental eingefasster See mit einer malerischen Felsgrotte in der Mitte. Große weiße Marmorvasen stehen auf dem Rasen, und die Statue des Cupido mit goldenem Pfeil und Bogen vor einer Hecke ist teilweise bereits mit Efeu überwuchert.
Der Mond scheint hell und wirft seinen milden Schein auf die Lichtung, die sich bald mit Leben füllen wird. Dryaden und Hamadryaden sind durstig und wollen trinken. Erklärend sei eingefügt, dass eine Hamadryade sich von der gewöhnlichen Dryade durch ihre Sesshaftigkeit unterscheidet. Die Erstgenannte streunt nicht umher, sondern hat festen Wohnsitz in einem Baumstamm. Als Baumgeist teilt sie Freude, Leid und Ableben mit ihrem Herbergsvater.
In der Grotte wohnt die Quellnymphe, die nun mit einem großen Tonkrug und einer Muschel als Schöpfkelle ihre Unterkunft verlässt, um die Flehenden mit köstlichem Nass zu laben. Die Grottennymphe genießt hohes Ansehen und als Gönnerin die gute Laune ihrer Gäste, die sich im Tanz frei entfalten kann.
Es sind neue Gäste angekommen. Ferienkinder einer Musikschule aus dem fernen Griechenland wollen mit ihrem Lehrer ihren Bildungsurlaub so richtig genießen. Sie gehören zu den Spezies der Faune, zeigen sich tagsüber den Franzosen nicht, weil ihre Füße ein bisschen ungewöhnlich geformt sind. Ludwig XIV., dem das schöne Schloss gehört, weiß nichts von ihrer Anwesenheit, weil die bunte Schar unerlaubt über die grüne Grenze gekommen ist.
Ganz ruhen darf der Schulunterricht auch in den Ferien nicht, und der „Alte Faun“ erläutert den Schülern, wie man die Panflöte effizient benutzt. Alle sitzen im Halbkreis, wenn Theorie gelehrt oder auf dem Instrument geübt wird.
Die einheimischen jungen Nymphen sind auch nicht ohne Aufsicht. In einer Prozession kommen sie heran und werden durch die begleitende Erzieherin mit ihren Tanzpartnern bekannt gemacht. Diese haben sich nach Körpergröße sortiert in einer Reihe aufgestellt – die Kleinsten bilden den Schluss.
Der „Alte Faun“ hat es schwer, Disziplin zu wahren, denn die Jungen sind übermütig und springen beim Tanz wie die Ziegenböcke. Der junge Styrax muss vom Erzieher immer wieder getadelt werden. Die kleine Mnesilla hat darunter zu leiden, denn sie kann sich seinen tänzerischen Kapriolen überhaut nicht anpassen.
Das Maß ist voll, denn Styrax hat nach dem Gurt des Alten gegriffen, wo dieser seinen Weinvorrat versteckt hält. Der Ungezogene leert den Behälter in einem Zug und kann auf seinen wackeligen Ziegenfüßen kaum noch stehen. Der Alte Faun beschließt den Frevler zu bestrafen. Mit Efeugirlanden von den Mitschülern umwickelt, wird er seiner Freiheit beraubt und an einen Baum gebunden. Mnesilla fleht, die harte Vergeltung zu mildern, aber Strafe muss nun einmal sein. Der Tag bricht an, die Schule wird geschlossen und Dryaden, Nymphe und Faune räumen ihre Sachen zusammen. Der Platz wird überstürzt verlassen, denn bald werden die ersten Spaziergänger kommen. Styrax wird völlig vergessen. Mnesilla kommt noch einmal zurück, um den Gefesselten zu befreien. Dieser weigert sich jedoch, mitzukommen. Fasziniert von dem anbrechenden Morgen, wünscht Styrax, nun Freiheit und Abenteuer kennenzulernen. Die kleine Nymphe eilt ohne ihn fort und hört aus der Ferne noch die Weise seiner Flöte, die wie Abschied klingt.
Allein zurück geblieben, sammelt Styrax Blumen und riecht daran. Er betastet die lieblichen Früchte, ohne sie zu pflücken oder blinzelt einfach nur in die Sonne. Hinter den Weidensträuchern wirft er einen Blick auf die Statue Cupidos, die ihm aus der Erinnerung bekannt vorkommt. Er biegt die Büsche zur Seite, um die Figur zu enthüllen. Soll er näher treten oder den Ort wechseln? Nachdem seine Scheu ihn verlassen hat, hebt er ein paar Kastanien auf und wirft nach der Marmorskulptur. Ein Geschoss trifft den Bogen, und der vergoldete Pfeil fällt zu Boden. Styrax schaut herum, ob es auch niemand gesehen hat. Dann geht er näher, zögert und berührt die Spitze mit dem Finger. Leicht verletzt überkommt ihn eine unbekannte Emotion. Den Pfeil nimmt er an sich, Strafgericht scheint von keiner Seite zu drohen. Styrax hebt das Geschoss in die Höhe, tanzt im Triumph und freut sich seiner Freiheit.
Völlig unbemerkt ist eine goldene Karosse den Gartenweg herangerollt. Styrax schaut erstaunt, denn ein solches Gefährt hat er noch nie gesehen. Schöne junge Frauen stecken ihre Köpfe aus den Fensteröffnungen. Die bunten Kostüme lassen vermuten, dass die Insassen aus einem anderen Land oder gar aus einer anderen Zeit angereist sind - wie er selbst. Die Glöckchen, mit denen die Pferde geschmückt sind, machen lustige Geräusche, während die Karosse den Hügel hinaufrollt. Styrax kann natürlich nicht wissen, dass es sich um Mitglieder der Ballettgruppe des Sonnenkönigs handelt. Der hintere Teil der Karosse ist mit Gepäck und Körben behangen. Styrax erstarrt in Anbetung und dann: ein Entschluss und ein Satz nach vorn. Styrax springt auf und hängt an der Kutsche, sich an den heraushängenden Textilien festhaltend und sich darin versteckend.
Im Schloss von Versailles soll im Freiluft-Theater am Abend eine Ballettaufführung stattfinden. Der Titel wird auf einem Spruchband mit
LA SULTANA DES INDES
angekündigt. Arbeiter sind noch damit beschäftigt, die Plattform zu errichten und den Baldachin aufzubauen, unter dem der Sultan die Huldigungen seiner Untertanen entgegennehmen wird. Körbe, gefüllt mit Kostümen und Stützen für die weiten Röcke der Damen, werden hinter die Bühne gebracht. Der Ballettmeister, gefolgt von Tänzern und Ballerinen, gibt letzte Anweisungen. Die Darsteller verschwinden hinter der Bühne, um in ihre Kostüme zu steigen und die Handwerker verziehen sich zu einem Drink in die Schlosskantine. In Abwesenheit des Dauphins, zu dessen Ehren die Aufführung am Abend stattfindet, soll eine letzte Probe stattfinden. Die Bühne ist leer.
Styrax nähert sich neugierig dem Schauplatz, sucht ständig Deckung hinter Sträuchern, um nicht gesehen zu werden. Ein verwaister Korb steht noch im Vordergrund, und ein besonders prächtiges Kostüm mit vielen Litzen und Borten ist nicht richtig verstaut und erregt die Aufmerksamkeit des Wissbegierigen. Unser Faun wagt sich aus seinem Versteck hervor, sieht das kostbare Gewand, und im Konflikt zwischen Scheu und Neugier siegt das Begehren. Flugs hat er das Kleidungsstück angelegt. Plötzlich hört er jemanden kommen. Geschwindigkeit ist für ihn keine Hexerei! Rasch springt er in den Korb und klappt den Deckel zu.
Der Ballettmeister ist beunruhigt und aufgeregt. Cydalise ist wieder einmal zu spät. Endlich kommt sie mit ihrem Gefolge, wirft den Überhang von sich und enthüllt ihr kostbares Kostüm als Sultana. Der Ballettmeister runzelt die Stirn, weil sie mit Schminken noch nicht fertig ist und von dem einen dies und von dem anderen jenes Requisit erbittet. Als Primaballerina darf sie selbstverständlich Allüren produzieren. Eine Zofe hält den Spiegel, bis sie mit ihrem Aussehen endlich zufrieden ist. Styrax hält es in seinem engen Käfig nicht. Mehrmals lugt er hervor und lässt den angehobenen Deckel wieder fallen.
Jetzt ist es so weit. Der Ballettmeister klopft mit seinem Taktstab dreimal auf den Boden und achtet darauf, dass er nicht versehentlich seinen Fuß trifft. Die Aufführung beginnt.
Der Sultan fühlt sich krank und ist gelangweilt. Er konsultiert seine Doktoren, welche die Apotheker rufen. Es folgt der Tanz der Apotheker. Ihnen gelingt es nicht, den Sultan zu kurieren, denn er leidet unter Depression. Trompetenfanfaren erklingen und Piraten unterbreiten dem Sultan ihre Beute. Eine Gruppe von Sklaven unterschiedlicher Herkunft macht ihre Aufwartung und soll dem Haushalt eingegliedert werden.
Der Sultan möchte liebenswürdig zur Gemahlin sein und sucht ihre Nähe. Offenbar hat er einen schlechten Zeitpunkt gewählt, denn Sie reagiert ungnädig, schlägt mit dem Fächer nach dem Gebieter und lacht ihm ins Gesicht. Ein Skandal ohnegleichen. Die Erhabenheit des Sultans wurde von einer Frau missachtet. Alle fallen auf die Knie. Von ihrer Schönheit gefangen, wird Cydalise Vergebung für ihr schlechtes Betragen zuteil. Alle jubeln.
Der Ballettmeister ist mit der Probe zufrieden, und für Cydalise ist Beifall nichts besonderes. Ihr ist kalt und sie verlangt nach einem Mantel. Ein Verehrer denkt, dass in dem ungeöffneten Korb ein wärmendes Kleidungsstück verborgen ist und hebt den Deckel an. Heraus springt Styrax. Mit einem Satz ist er in Cydalises Nähe, um sie zu küssen.
Alle sind perplex, und der Ballettmeister will wissen, wer er ist, weil er sich nicht erinnert, ihn als Tänzer engagiert zu haben. Dass Styrax die Tanzkunst beherrscht, stellt er sogleich unter Beweis. Erstaunen erfasst die Zuschauer, und Cydalise kann nicht anders, als einen Pas de deux mit der wildfremden Person zu tanzen. Dabei geraten die Körper so nah aneinander, dass es den Verehrern der Primaballerina allzu aufdringlich erscheint und versuchen, sie ins Abseits zu drängen. Sie wirft dem Tänzer noch eine Rose zu, und er kann ihr noch Cupidos Liebenpfeil zustecken, den sie in dem breiten Stoffgürtel an ihrer Taille unterbringt.
Styrax schwingt die Rose wie eine Trophäe und tanzt einen Solo. Alle sind hingerissen, versuchen den Faun zu imitieren, und eine Variation beschließt das erste Bild des zweiten Aktes.
SZENENWECHSEL
Als Primaballerina des Königs besitzt Cydalise ein vornehm ausgestattetes Appartement im Schloss. Die Fensteröffnungen an der Seite sind kreisrund und gewähren Ausblick auf den Park. Ihre enthusiastischen Bewunderer, die ihr auf Schritt und Tritt folgen, hat sie alle fortgeschickt. Sie ist übermüdet und lässt sich von ihren Zofen für die Nacht herrichten. Der kleine Blackboy hat ihr einen Korb neuangekommener Liebesbriefe gebracht, in denen sie ein bisschen liest, während ihr die Frisur zurechtgerückt wird. Viele Blumen sind gekommen. Die meisten werden an das Personal weiterverschenkt.
Nachdem die Mädchen gegangen sind, zerreist Cydalise die Briefe in kleine Stücke und lässt sie aus dem Fenster tanzen, wo sie fliegen wie die Schmetterlinge. Den Liebespfeil, den Styrax ihr zum Abschied gegeben hat, legt sie gedankenverloren auf die Frisierkommode und sich selbst in die weichen Kissen.
Styrax springt in den Raum, das angelehnt gewesene Fenster hinter sich schließend. Sofort sieht er den goldenen Pfeil, nimmt ihn in die Hand und - genau wissend, was er tut - piekst Cydalise damit in den Arm. Diese erwacht, die Müdigkeit ist von ihr gewichen, stellt keine Fragen und tanzt sogleich mit dem Ankömmling einen „Pas de deux“. Styrax ist verwundert von allem was er sieht. Er spielt mit den Toiletten-Accessoires, unwissend zu was sie benutzt werden. Es macht ihm einen Heidenspaß eine ihm unbekannte Welt zu entdecken.
Den Korb mit den Liebesbriefen entdeckt er auch. Cydalise bittet ihn, auch einen Liebesbrief zu schreiben und hält Ausschau nach einem Federkiel. Aber Styrax kann nicht schreiben! Er soll einen Brief aus dem Körbchen nehmen und ihn ihr vorlesen. Styrax kann auch nicht lesen! Was kann er eigentlich? - Flöte spielen! Er führt sein Talent vor, und Cydalise beginnt, sich nach der Musik im Takt zu wiegen. Es dauert nicht lange und der kleine Blackboy, der gelauscht hat, sieht die beiden in inniger Umarmung. Sie schwört, ihn für immer zu lieben, und er leistet einen Eid bei der Rose, die sie ihm gegeben hat, die Geliebte nie zu verlassen.
Der Morgen dämmert, und die Stimmen des Waldes erwachen. Styrax steht am Fenster und ist vom Schauspiel der Natur tief beeindruckt. Cydalise versucht, ihn vom Fenster wegzuziehen, doch er widersetzt sich. Sie merkt, wie die Natur ihn zurückruft, und legt die Hände auf seine Lider. Beide atmen die frische Morgenluft und bewundern den Sonnenaufgang.
Styrax ist von den Seinen vermisst worden. Plötzlich wimmelt es im Zimmer von Faunen und kleinen Nymphen. Sie haben Gräser und Wildrosen mitgebracht, nicht für Cydalise, sondern für Styrax. Sie lassen ihn daran riechen, damit er den duftenden Puder auf der Frisierkommode vergisst. Styrax kommt wieder zu sich selbst und weiß, wohin er gehört.
Mit Cydalise werden die munteren kleinen Geister schnell fertig. Sie halten ihr Schlafmohn unter die Nase, bis sie ermattet auf ihr Bett sinkt und ihre Umgebung nicht mehr wahrnimmt. Styrax steht am Fenster, bläst ihr einen Handkuss zu und springt hinaus.
Mit seinem poème choréographique „L’Après midi d’un Faune“ hatte Claude Debussy den Impressionismus eingeläutet und einen Meilenstein der Musikgeschichte gesetzt. Ein Faun auf der Ballettbühne war etwas Ungewöhnliches und regte den Nachahmungstrieb von Gabriel Pierné an. Mit „Cydalise et le chèvre-pied“ schuf er ein Meisterwerk der Ballettkunst, welches dem Werk Debussys, allein wegen seiner abendfüllenden Länge, gleichzusetzen ist. Das feinsinnige Libretto, welches nicht der Groteske entbehrt, setzte er in Musik um, die den Zuhörer berauscht. Pierné ist kein Epigone, er findet seine eigene überwältigende Klangsprache. Zündende Einfälle, die als Leitmotiv immerzu wiederkehren, bleiben auch dem oberflächlichen Zuhörer im Ohr haften. Mit Styrax modelliert er eine Bühnenfigur, die in ihrer Scheu, Neugier und Unbekümmertheit anrührt und die Herzen des Publikums erobert, weit mehr als die Kapriolen der launischen Cydalise.
Die beiden Suiten folgen der Chronologie des Balletts, wobei die zweite sich allein auf das zweite Bild des zweiten Aktes beschränkt.
Letzte Änderung am 27.7.2006
Beitrag von Engelbert Hellen