Der Karneval / The Carnival
Anlass: | Benefizvorstellung der Zeitschrift „Satyricon“ |
Uraufführung: | 5. März 1910 Pawlow-Saal, Sankt Petersburg Choreographie: Michail Fokin Ausstattung: Leon Bakst Darsteller: Tamara Karsawina, Vera Fokina, L. Schollar, Bronislawa Nijinska, Wsewolod Mejerchold, Leonid Leontjew, A. Bekefi, W. Kiselew und weitere |
Besetzung: | Orchester |
Bemerkung: | Das Ballett wurde von Glasunow, Rimski-Korsakow, Liadow und Tscherepnin instrumentiert; die Vorlage ist Schumanns Opus 9, der Klavierzyklus 'Carnaval'. |
Libretto: | Michail Fokin und Leon Bakst |
Ort: | Wien |
Zeit: | Mitte des 18. Jahrhunderts |
Colombine | |
Chiarina | |
Estrella | |
Papillon | |
Pierrot | |
Harlekin | |
Pantalone | |
Florestan |
Die Figuren der Commedia dell’arte haben von ihrem allzu volkstümlichen Charakter einiges daheim lassen müssen, denn sonst hätten sie für Österreich kein Einreisevisum bekommen. Wir finden die derben Typen im Foyer eines Ballsaales der Kaiserstadt Wien zur Karnevalszeit in bester Stimmung wieder. Feine Manieren haben sie angenommen. Man attackiert sich nicht mehr, sondern man tändelt und neckt sich. Das Vestibül ist sparsam möbliert, zwei Kanapees schmücken den Raum, ansonsten nur Spiegel und schwere Brokatvorhänge. Weil jeder sich vom Tanzen im Ballsaal einmal ein bisschen ausruhen möchte, ist Kommen und Gehen wie in einem Taubenschlag. Im Klavierzyklus von Robert Schumann führen die Persönchen ein recht isoliertes Dasein - einzeln werden sie gewürdigt. Im biedermeierlichen Wien dürfen sie jedoch Grüppchen bilden. Es bringt Bewegung und Stimmung in das Geschehen - von einer wirklichen Handlung kann nicht die Rede sein. Man tanzt Walzer, man küsst sich und man schenkt sich eine Rose. Die Damen werden verfolgt, nicht von Räubern, sondern von Verehrern, die entweder abgeblitzt werden oder man neigt sich ihnen zu. Zur rechten Tür kommen sie herein und zur linken machen sie die Biege, zuweilen auch umgekehrt.
Pierrot, der ewig Traurige, hat sich vorgenommen, nicht mehr allein zu sein, nimmt seinen spitzen Hut und will damit ein Mädchen einfangen. Ausgerechnet Papillon hat er sich ausgesucht, die natürlich - flink wie sie ist - davonflattert. Wer sind die übrigen Paare? Eusebius und Chiarinna sitzen auf dem Sofa. Florestan gesteht Estrella seine Liebe, und Harlekin legt sein Herz Columbina zu Füßen. Pantalone möchte sich auch gern mit Columbina in Zweisamkeit zusammenfinden.
Harlekin fällt es am Schwersten, in vornehmer Gesellschaft feine Manieren zu produzieren. Er bindet Pierrot und Pantalone an ihren langen Ärmeln zusammen. Das ist bodenlos ungezogen!
Es erstaunt immer wieder, dass die Großen ihrer Zeit – Choreographen, Bühnenbildner und Tänzer – aus der Fülle der Klavierliteratur etwas greifen, sich daran entzünden und ein Ballett formatieren. Komponisten von Bedeutung scheuen sich nicht, im Kollektiv ein Werk, welches ihnen nicht gehört, zu instrumentieren, damit es in der Wiederverwertung neuen Nutzen bringen kann.
Ebenso fehlt es an Themen. Selbst Ballettschöpfer der Gegenwart können sich dem Klamauk der Commedia dell’arte nicht entziehen. Wertvolle Kompositionen werden hierbei wie Rohstoff behandelt.
Für einen Ballettmeister haben Komponisten offenbar nur einen schwachen Stellenwert.
Die deutsche Erstaufführung fand am 20. Mai 1910 in Berlin durch Diaghilews Ballets Russes statt. Waslaw Nijinskiy tanzte den Harlekin. Am 4. Juni 1910 folgte die Premiere in Paris.
Letzte Änderung am 9.6.2009
Beitrag von Engelbert Hellen