Peter Iljitsch Tschaikowski (1840-1893):
Dornröschen / Sleeping Beauty / La belle au bois dormant
Entstehungszeit: | 1888-89 |
Uraufführung: | 3. Januar 1890 in St. Petersburg (Marijnskij-Theater) Choreographie: Marius Petipa Bühnenbild: Iwan Andrejew Michail Botscharow, Konstantin Iwanow, Henryk Levogt und Matwei Schischtkow Kostüme: Iwan Wsewoloisky Formation: Ballett des Marinskij-Theaters St. Petersburg Ausführende: Carlotta Brianza, Pawel Gerdt (oder Pawel A. Gerdt), Maria M. Petipa, Enrico Cecchetti, Warwara Nikitina, K. I.Kschessinsky, Giuseppina Cecchetti |
Besetzung: | Orchester |
Spieldauer: | ca. 120 Minuten |
Bemerkung: | „Dornröschen“ ist die totale Verkörperung des Ideals eines abendfüllendes Ballettes, welche die Romantik hervorgebracht hat, ein Meilenstein der Geschichte des Tanztheaters. Es hat viele neue Fassungen gegeben, die sich aber fast alle an die Choreographie Petipas anlehnen. Die großen Ballerinen haben sich gedrängt, die Partie der „Sleeping Beauty“ tanzen zu dürfen. Diaghilews Ballets Russes wurde durch die spektakulären Aufführungen in London fast an den Rand des Ruins gedrängt. Die Erstaufführung im Londoner Alahmbra Theater fand 1921 unter dem Titel: „The Sleeping Princess“ statt. Vom dritten Akt, der aus wenig Handlung und vielen Divertissements besteht, gibt es eine eigene Fassung unter dem Titel „Le Mariage d'Aurore“ (Die Hochzeit Auroras). |
Opus: | op. 66 |
CD: | [Details] |
Dornröschen op.66 (Chandos, DDD, 2012) Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893) ,,... ein energisches, temperamentvolles Musizieren, sachlich eher als überbordend emotional. Järvi folgt lieber den Vorschriften und Intentionen des Komponisten, als der Musik von außen zusätzliche Bedeutung aufzupfropfen. Unterstützt wird er dabei von dem in Hochform befindlichen norwegischen Orchester, einem ebenso transparenten wie luxuriösen Klangbild sowie, als besonderes Bonbon, dem Violinvirtuosen James Ehnes, der in einigen Passagen des zweiten und dritten Akts zu hören ist." (FONO FORUM, Mai 2013) |
Art: | Ballett in einem Prolog und drei Akten |
Libretto: | Iwan Wsewoloishki und Marius Petipa nach Charles Perrault |
Ort: | Frankreich |
Zeit: | 16. Jahrhundert |
Prinzessin Aurora: | unser Dornröschen |
Prinz Desiré: | auch Florimund genannt |
Die Fliederfee: | gutmütig geartet |
Carabosse: | die böse Fee, unheilstiftend |
König Florestan XXIV. und die Königin | |
Catalabutte: | Zeremonienmeister, trottelig |
Weitere: | vier Prinzen, Bewerber um Auroras Hand, vier Feen: die Diamant-Fee, die Saphir-Fee, die goldene und die silberne Fee |
DIE TAUFE
Obwohl es nur ein Mädchen geworden ist, wird im Palast König Florestans die Kindtaufe der Prinzessin Aurora mit allem Pomp gefeiert. Die aufgestellten Gabentische biegen sich unter der Last der Geschenke. Die Hochzeitsgäste bringen nicht nur Babykleidung und Spielsachen, sondern das Neugeborene bekommt auch immaterielle Werte wie Liebreiz, Schönheit und Begabung in die Wiege gelegt.
Dem Ballettpublikum muss erklärt werden, dass König Florestan diplomatische Beziehungen zum Geisterreich unterhält und der Zeremonienmeister Catalabutte anstelle des Pfarrers schöne Feen zum Wiegenfest eingeladen hat. Sie sollen dem Kind beistehen, das Lebensschicksal zu meistern und rechtzeitig zur Stelle sein, wenn Unheil droht.
Gefahr ist bereits im Anzug. Es mag dahin gestellt bleiben, ob die Fee Carabosse absichtlich oder aus Versehen nicht eingeladen worden ist. Die Missachtete kommt in einer von Ratten gezogenen Kutsche vorgefahren und begehrt Einlass. Wieso steht ihr Name nicht auf der Gästeliste? Der Zeremonienmeister entschuldigt sich vielmals, dass die Einladungskarte verloren gegangen sein könnte. Jedoch die Erboste lässt sich nicht verschaukeln, rupft dem Pflichtvergessenen unter dämonischem Gekicher die Haare büschelweise aus und verstreut sie auf dem Parkett. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich sodann auf die Wiege. Der unschuldigen kleinen Prinzessin flucht sie, dass sie sich an ihrem sechzehnten Geburtstag in den Finger stechen und sterben werde. Ohne die Buttercremetorte auch nur angerührt zu haben, braust die Rachsüchtige mit ihrem merkwürdigem Gefolge davon.
Die königlichen Eltern sind tief bestürzt, doch die Fliederfee beschwichtigt: An einem Nadelstich in den Finger stirbt man nicht, sofern keine Blutvergiftung vorliegt. Neutralisieren kann sie den Fluch ihrer unangenehmen Kollegin nicht, aber auch sie ist eine mächtige Fee. Die Prinzessin wird nicht sterben, sondern lediglich ins Koma fallen, aus dem der feurige Kuss eines jungen Prinzen sie erlösen wird. Alle sind erleichtert, und die anwesenden Damen – jung wie alt – wünschen sich, dass der junger Prinz anschließend auch einmal bei ihnen vorbeikommen möge.
DER ZAUBER
Die Prinzessin ist sechzehn geworden und feiert Geburtstag. Strahlend schön, zieht sie die heiratsfähigen Prinzen aus allen Himmelsrichtungen an den königlichen Hof. Es wird getanzt und gefeiert und jeder der jungen Prinzen möchte die Begehrenswerte mit nach Hause nehmen und den Eltern vorstellen. Aber auch die Bauern aus dem Dorf sind guter Dinge und dürfen mit ihrer Prinzessin feiern. Trotz aller Verlockungen des Hoflebens ist Aurora naiv und bescheiden geblieben und erfreut sich am Anblick einer duftenden Rose mehr, als an kostbarem Geschmeide. Diese Neigung ist allgemein bekannt, und die vier Thronfolger, die nachdrücklich bei den königlichen Eltern um ihre Hand angehalten haben, kommen preiswert davon, denn jeder schenkt der Prinzessin eine Rose. Von der Gabe angetan, tanzt die Naturverbundene mit allen Bewerbern nacheinander einen Pas de deux.
Alle Nadeln, darunter fallen Nähnadeln, Stricknadeln, Stecknadeln und Sicherheitsnadeln, sind aus dem Königreich verbannt worden. Kleidungsstücke werden mit Gürteln zusammengehalten, weil Knöpfe nicht mehr angenäht werden können. Der Haushofmeister Catalabutte hat erhebliche Probleme, für die Einhaltung der königlichen Bestimmungen zu garantieren.
Eine alte Frau hat sich Zutritt zum Bankettsaal verschafft. Die Personenkontrolle war nachlässig und bemerkte nicht, dass die Unbekannte eine Spindel in ihrem Gepäck mit sich führt. In bunte Girlanden eingewickelt überreicht sie der Prinzessin das Geschenk. Diese kann mit dem Spielzeug nichts anfangen, weil der Nutzwert des Gegenstandes nicht zu erkennen ist. Die gefährliche Spitze übersieht die Unaufmerksame und sticht sich in den Finger, aus dem ein Blutstropfen hervorquillt. Von Schmerz gepeinigt, wirbelt Aurora um die eigene Achse und sinkt bewusstlos zu Boden. Unter ihrer bäuerlichen Kleidung erkennen nun alle die triumphierende Carabosse. Man erinnert sich an ihren furchtbaren Fluch, und die vier Prinzen wollen sich mit gezogenem Degen auf die Missetäterin stürzen. Diese kann dem Druck der öffentlichen Meinung nicht länger standhalten und zieht es vor, in einer Rauchwolke schleunigst zu verschwinden.
Jetzt muss sich die Fliederfee etwas einfallen lassen, wie dem armen Kind zu helfen sei. Die Gutwillige hat ihre Zauberkünste nicht so recht im Griff und wenig Augenmaß für die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Sie erhebt ihren Zauberstab, und völlig unsinnig entsteht zum Erstaunen des anwesenden Publikums um den Palast ein dichter Wald. Aufsteigender Bühnennebel lässt das Ausmaß des wuchernden Naturwunders nicht in vollem Umfang erkennen.
Unter magischem Einfluss bleiben alle Schlossbewohner plötzlich wie angewurzelt stehen. Jeder behält die Pose inne, die er zuletzt eingenommen hat und schlummert ein. Der Ballettbesucher sollte den überflüssigen Zauber als Missgeschick einer geistig Überforderten abtun. Es hätte völlig ausgereicht, nur Aurora in Schlaf zu versenken, aber offenbar war die Dosis zu stark, so dass der Zauber sich automatisch in weitem Radius verteilte. Keinesfalls ist zu befürchten, dass bei der herrlichen Musik von Peter Tschaikowski der Ballettbesucher auch einschläft.
DIE ERSCHEINUNG
Hundert Jahre sind ins Land gezogen, und die Geschichte von dem verwunschenen Schloss haben sich nicht alle gemerkt. Die Fliederfee bemüht sich redlich, ihre Zusagen einzuhalten, ist aber bisher zu keinem Resultat gekommen. Listig versucht sie, mit allen Tricks einen geeigneten Prinzen für die geplante Heldentat zu begeistern.
Prinz Desiré, der mit seinen Gefährten auf einer Waldlichtung lagert, ist das Opfer ihres jüngsten Experiments. In einem Boot aus Perlmut, von Schmetterlingen gezogen, nähert sich die Magierin dem Jüngling. Um ihr Ziel zu erreichen verlegt sie sich aufs Gaukeln und stachelt durch die Vorführung von Traumbildern sein männliches Begehren an. Eine schlafende Schöne liege in ihrem Himmelbett und sehne sich nach dem erlösenden Kuss, der sie aus ihrem Dämmerschlaf befreien soll. Die Vision zerfließt, doch immerhin hat die Fliederfee den Feigling so weit gebracht, dass er zum Schloss geführt werden möchte.
Im Widerspruch zum Literaturmärchen muss Florimund - wie sein Spitzname lautet - das Dornengestrüpp nicht selbst mit seinem Schwert beseitigen, sondern die Fliederfee nimmt ihm zum Verdruss von Caraboss, die sich auf die Lauer gelegt hat, die Gartenarbeit ab. Florimund ist auch nicht gefordert, am Spalier hochzuklettern, denn das Baldachinbett steht nicht mehr im Turmzimmer, sondern im Schlosshof. Der Prinz macht einen Hechtsprung und schon liegt er auf Dornröschen. Ein wilder Kuss auf dem Mund erlöst die Schöne aus ihrem Koma. Mit Wohlgefallen betrachtet Prinzessin Aurora den neuen Bettgefährten, und damit ist der Bann, der das Schloss seit hundert Jahren lähmt, gebrochen. Die Schlossbewohner sind in der Zwischenzeit nicht gealtert, fühlen sich munter, und der Küchenchef kann dem Lehrbuben endlich die zugedachte Ohrfeige verpassen.
DIE HOCHZEIT
Natürlich ist Prinz Desiré für seine Heldentat angemessen zu entlohnen. Er bekommt Prinzessin Aurora zur Gemahlin und wird eines Tages neben ihr die Thronfolge antreten, weil Aurora ein Einzelkind ist und es keine weiteren Anwärter auf den Thron gibt. Die bevorstehende Hochzeit wird pompös gefeiert.
Carabosse ist auch diesmal nicht eingeladen und der Sicherheitsdienst wurde sorgfältig instruiert, die Einfahrt einer Rattenkutsche in den Schlosshof abzublocken.
Der Zeremonienmeister hat für ein aufwändiges Unterhaltungsprogramm gesorgt, welches der König und die Königin vom erhöhten Thronsitz aufmerksam verfolgen. Die Märchenfiguren aus der Kollektion „Contes de la mère l'Oie“ des Dichters Charles Perraults - es sind Harlekin und Columbine, Pierrot und Pierrette, der gestiefelte Kater, Rotkäppchen, Cinderella, ein Zwerg und ein Menschenfresser und viele andere - formen sich zu einer Polonaise.
Den Höhepunkt bildet jedoch ein Pas de quatre, der von vier Feen aus dem Reich der Mineralien und Edelmetalle getanzt wird. Im Pas de charactère tanzt der gestiefelte Kater mit einer weißen Katze. Ein weiterer Auftritt, von Holzbläsern getragen, ist zwei blauen Vögeln gewidmet, die einen weiteren Höhepunkt des Abends darstellen.
Selbstverständlich hat Peter Tschaikowski zum Schluss des Balletts einen Pas de deux für das Hochzeitspaar vorgesehen, damit den Besuchern die Geschichte von der Prinzessin, die durch den Mut eines Prinzen aus einem hundertjährigen Schlaf wieder mobil gemacht wird, in Erinnerung bleibt.
Letzte Änderung am 26.12.2016
Beitrag von Engelbert Hellen