Baldurs Träume
Entstehungszeit: | 1938 |
Uraufführung: | 24. Februar 1938 in Skandinavien |
Spieldauer: | ca. 90 Minuten |
CD: | [Details] |
Baldurs draumar für Tanz & Orchester (BIS, DDD, 2002/2003) Geirr Tveitt (1908-1981) |
Art: | Ein symbolisches Spiel für Tanz und Orchester in drei Akten |
Libretto: | Geirr Tveitt nach altnordischen Texten und den Sagen von Snorre Sturlasson |
Ort: | Skandinavien |
Zeit: | zu Urzeiten |
Baldur: | Gott des Frühlings und des Lichts |
Hod: | Gott des Feuers |
Heimdall: | Gott der Musik |
Drage: | Gott der Dichtkunst |
Weitere: | Schneewesen, Bergriesen, Frühlingselfen, Naturgeister |
Allen drei Akten ist ein kurzer gesprochener Prolog vorangestellt, der die Handlung, welche im Tanz dargestellt wird, skizziert. Zusätzlich sind Liedtexte - von der Sopranstimme, dem Bariton oder Bass vorgetragen - in das Tanztheater eingestreut. Die Texte bestehen nicht immer aus sinnvollen Wörtern, sondern es sind manchmal Empfindungslaute, die aneinandergereiht werden. Der Handlungsablauf ist teilweise an die isländische Edda angelehnt.
Still und feierlich bietet sich dem Auge eine ruhige, weite Schneelandschaft. Infolge vorangegangener Schneewehen bilden sich aus dem Schnee menschenähnliche Wesen, die plötzlich sehr lebendig sind und verständlicherweise tanzen möchten. Die weißen Geschöpfe sind jedoch nicht allein auf dieser Welt. Es gibt die Bergriesen, die plötzlich von den Höhen herabsteigen, das Tanzen als störend empfinden und es untersagen. Die soeben erst zum Leben erwachten Gestalten werden unter den Schnee zurückgetrieben.
Eines der weißen Phantome lässt sich diese Willkür nicht bieten, zeigt Führungsqualitäten und setzt Widerstand entgegen. Gegen die Übermacht der Riesen kommt der Aufsässige nicht an und fällt tot zu Boden. Die Giganten verschwinden wieder.
Die weißen Gestalten kommen erneut aus dem Schnee hervor und wollen dem Toten ein ehrenvolles Begräbnis bereiten. Sie errichten einen Scheiterhaufen und entzünden ein Feuer, um den Toten zu verbrennen. Das Feuer gerät außer Kontrolle, und man versucht unter der Leitung von Hod, mit Schnee zu löschen. Der Funkenflug ist unerträglich, verletzt ihre Augen, so dass die Beerdigungshelfer erblinden.
Das Feuer wird im Laufe der Zeit immer heller und stärker und entwickelt sich zur Morgenröte. Aus dieser entsteht die Sonne, die nach oben steigt und die verbrannte weiße Gestalt mitnimmt. Diese wandelt sich zum Gott und hat die Möglichkeit, auf den Sonnenstrahlen wieder zur Erde zu gleiten, wann immer sie möchte.
Der Gott nennt sich Baldur und wenn er kommt und er für längere Zeit zu Besuch weilt, wird getanzt und gefeiert. Das ist im Frühling der Fall, wenn Heimdall in sein Horn bläst, der Schnee zu schmelzen beginnt und die Natur erwacht.
Die Täler und Wälder werden von Frühlingselfen bewohnt. Auch sie sind den Ungeheuern ein Dorn im Auge. Die Riesen, bösartig von Natur, unternehmen alles, die Kleinwüchsigen durch Kälte und Stürme zu vertreiben. Die Drangsalierten bekommen Hilfe von den Fjordgeistern, welche die Kälte in die Flucht schlagen. Die Welt grünt und blüht. Die Vögel zwitschern, und alle Lebewesen denken an Paarung. Es erscheinen Hügelwesen, um mit den Tieren das Erwachen der Natur zu feiern. Alles tanzt, und es erscheint der Dichtergott namens Brage und verkündet in seinen Liedern, dass es bald Sommer wird. Schließlich tauchen sogar richtige Menschen auf.
Mittelpunkt des Interesses und der Huldigung ist der Sonnengott Baldur, der tragische Apollo des hohen Nordens. Seine Lieblingsbeschäftigung ist natürlich Tanzen. Alle schauen begeistert zu, wenn er seinem Bewegungsdrang keinen Zwang antut und voller Anmut den Sommer preist.
Plötzlicher Tumult aus einer Richtung, aus der man es gar nicht erwartet hätte. Hod, der einst die Löscharbeiten leitete, kommt mit den Schneemenschen und will auch tanzen. Da diese durch den Funkenregen erblindet sind, schlagen sie mit brutaler Kraft um sich, entwickeln Schneegestöber und stören unbeabsichtigt das Erwachen der Natur. Erschrocken zieht der Gott des Lichtes sich mit seiner Anhängerschaft zurück.
Heimdall und Brage - als Götter zuständig für die Bereiche Musik und Dichtkunst - werden durch das Gefiedel eines Amateurs angelockt. Mit ihren Blechblasinstrumenten fallen die beiden Gottheiten in das Konzert ein. Eine Bergsirene eilt mir ihrer Flöte noch hinzu, so dass die vier jetzt als Quartett auftreten können.
Sie planen, den verprellten Baldur einzufangen, damit er ihnen mit seiner Anmut Gesellschaft leiste. Mit Spiel und Tanz wird es gewiss gelingen, ihn gesellig zu stimmen. Nochmals kommt Unterstützung, diesmal von einer Sopranistin, die aber dezent in der Ferne bleibt, um als Echo wahrgenommen zu werden, damit die Landschaft noch ein bisschen schlafen und träumen kann.
Nun kommen wir endlich zum Thema, welches dem Tanzdrama den Titel gegeben hat. „Baldurs Träume“ sind tatsächlich fürchterlich. Die Blumen, das Gras und die Bäume verdorren. Tiere und Menschen siechen dahin. Baldur selbst ahnt seinen Tod voraus. Die Umwelt sieht, welche Qualen der Lichtgott in seinen Träumen erleidet. Sie wollen ihm helfen und Sicherheit geben. Die Natur ist angehalten, Baldur kein Leid zuzufügen. Die Pflanzen und Tiere, die Bäume und Gewässer, alle müssen dem Vielgeliebten Zuneigung und Treue schwören. Nur der Mistelzweig fühlt sich missachtet, weil man ihn für zu unbedeutend hält, um auch von ihm den Schwur zu verlangen.
Baldur erwacht, und alle versuchen, ihn in angenehme Stimmung zu versetzen. Sie führen einen Test mit ihm durch. Es werden Speere nach ihm geschleudert und Steine nach ihm geworfen. Äxte und Schwerter können ihm nicht schaden. Die Natur hält Wort und fügt dem Lichtgott keinen Schmerz zu. Er lacht und tanzt und ist in guter Laune, weil er sieht, wie begehrt und beliebt er ist. Alle Waffen prallen an seinem sonnigen Körper ab.
Hod, möglicherweise missgünstig, ist betrübt und die Bergriesen fragen ihn nach der Ursache seiner schlechten Laune. Warum will er nicht wie alle anderen auch auf Baldur schießen? - Warum sollte er, wenn dieser unverletzbar geworden ist. - Ein Bergriese, der auch den Verdruss der Mistel wahrgenommen hat, schnitzt aus einem Zweig des Strauches einen Pfeil und drückt dem missmutigen Hod einen Bogen in die Hand. Hod schießt, und der aus dem Mistelzweig gefertigte Pfeil trifft Baldur ins Herz.
Alle stehen wie versteinert in stummem Erschrecken. Keiner weint, keiner bewegt sich, zu groß ist die Trauer um den unersetzlichen Verlust. Die Abendsonne saugt den blutüberströmten Körper Baldurs an, um in ewiger Nacht mit ihm zu verschwinden. Die Blätter fallen von den Bäumen und das Leben aller droht zum Stillstand zu kommen. Es wird Herbst. Bald kommt der Schnee und alles fleht zur Sonne, dass Baldur wieder zurückkommen möge.
Das Ballett weckte nach der Uraufführung großes Aufsehen und musste mehrfach wiederholt werden. Es gab eine Reihe von Bearbeitungen, die das Stück reduzierten und die vokalen Einlagen wegließen, damit die Musik auch im Rundfunk gegeben werden konnte. Abendfüllende Ballettmusiken sind im Norden äußerst selten, und es gab bei der Einstudierung Probleme, weil eine ausreichende Zahl guter Tänzer nicht zur Verfügung stand.
Im Anschluss an eine Aufführung in Paris im Jahre 1939 wurde die Original-Partitur nach London geschickt und ist infolge der Kriegswirren und Bombardierungen auf dem Wege dorthin verloren gegangen. Tweitt selbst ließ das Baldur-Projekt nicht los und er erstellte eine Neuschöpfung des Werkes. Auch diese Partitur ist nicht mehr greifbar, weil sie bei einem häuslichen Wohnungsbrand im Jahre 1970 zerstört wurde. Mit Erfolg haben Experten versucht, das angesengte Material weitgehend wieder lesbar zu machen. Aus alten Rundfunkaufzeichnungen haben die Musikwissenschaftler und Komponisten Kaare Dyvik Husby und Alexej Rybnikow in Gemeinschaftsarbeit versucht, ein neues gültiges Manuskript zu erstellen, so dass wir heute über eine vorzügliche Einspielung auf Tonträger des schwedischen Labels BIS zurückgreifen können.
Die Musik von Geirr Tweitt ist eigenwillig und kühn und zeugt von hoher Inspiration, welche die etwas spröde Textvorlage überhaupt umsetzbar macht. In den lyrischen Passagen kommen besonders die Holzbläser zum Zuge, während das dramatische Geschehen durch die Schlaginstrumente illustriert und vorangetrieben wird. Die Struktur der Klangblöcke erinnert entfernt an die Kompositionstechnik von Carl Orff.
Hingewiesen sei auf das Ballett „Valkyrien“ des Dänen J. P. E. Hartmann, dessen literarischer Vorwurf weitaus konkreter ausgearbeitet, in der musikalischen Ausführung jedoch der Zeit der Frühromantik verhaftet ist und die Abwechslung, die Klangfarben und den Ideenreichtum der Schöpfung von Tweitt nicht anzubieten hat.
Beide Werke bilden die Eckpfeiler nordischen Ballettschaffens.
Letzte Änderung am 25.4.2008
Beitrag von Engelbert Hellen